von Anna Kötter
Wie selbstverständlich und beliebt ist doch die Bielefelder Stadtbahn heutzutage! So zählt sie nahezu zu den wichtigsten Kennzeichen der Stadt, obwohl sie erst seit dem Jahr 1900 als Fortbewegungsmittel in Bielefeld dient. Vorher prägten Pferde, Kutschen und Fußgänger das Stadtbild; denn erst, als die Industrialisierung auch Bielefeld erfasste und durch die entstandenen Kraftwerke genügend Energie für die Betreibung einer Straßenbahn vorhanden war, wurde die Installation dieser möglich. Damit brachte die Industrialisierung aber nicht nur eine neue Form der Fortbewegung, sondern auch einen neuen Beruf hervor – den damals ausschließlich männlichen Straßenbahnfahrer.
Während heute die Straßenbahnfahrer*innen kaum sichtbar sind, waren die ersten Straßenbahnfahrer stets präsent für die Fahrgäste. Sie halfen beim Ein- und Aussteigen und verdienten sich dadurch neben dem ansonsten spärlichen Gehalt von 95 Mark im Monat, zusätzliches Trinkgeld. Dabei war der Job wahre Knochenarbeit und das bei einer 60 Stunden Woche mit zusätzlichen Fußmärschen zwischen Arbeitsort und Wohnort von zuweilen über zwei Stunden. Neben der eigentlichen Fortbewegung der Bahn gehörten anfangs auch Tätigkeiten rund um die Instandhaltung dazu, wie Reinigungs- und Baumfällarbeiten. Aber auch das Fahren allein war körperlich anstrengend, da die Strombremse nur im Notfall eingesetzt werden durfte und ansonsten nur die Handbremse verwendet wurde. Wetterempfindlich durften die Fahrer ebenfalls nicht sein, da die Wagen nach vorne hin offen waren. Sie mussten jedem Wetter trotzen, was vor allem im Winter unangenehm war. Die zur Verfügung gestellten Teermäntel boten nur begrenzten Schutz und erst im Jahr 1907 wurde der Wunsch nach geschlossenen Wagen endgültig erfüllt. Dennoch blieb die physische Arbeit anspruchsvoll, sodass viele der ersten Straßenbahnfahrer ihre Arbeit aufgrund von Wirbelsäulen- und Nierenschäden vorzeitig beenden mussten. Beschwerden waren jedoch unerwünscht, stattdessen wurde Disziplin gefordert und kleinste Regelverstöße hatten Strafen, wie z.B. einen Lohnabzug, zur Folge. Der Beitritt zu einer Gewerkschaft, um sich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen, war ihnen nicht erlaubt. Ein Wechsel in der Direktion brachte erste Verbesserungen der Arbeitsbedingungen mit sich. Doch erst nach 1918 fanden Belegschaftsversammlungen statt und die Straßenbahnfahrer durften in eine Gewerkschaft eintreten. Es wurden Tarifverträge abgeschlossen und die Arbeitsbedingungen verbesserten sich spürbar.
Heute lohnt sich also beim Einfahren der nächsten Straßenbahn ein Blick in die Fahrer*innenkabine zu werfen, um zu bestaunen, wie sich Berufe im Laufe der Zeit verändern können!
Arbeitsvertrag des ehemaligen Schaffners/Straßenbahnführers Oskar Ossiek, Quelle: Stadtarchiv Bielefeld.
Dieses und weitere Ereignisse der Industrialisierung im Überblick
Quellen und weiterführende Literatur
Büschenfeld, Jürgen: Stadt in Bewegung, in: Der öffentliche Nahverkehr. Netz, Werk, Stadt. Hrsg. von Jürgen Büschenfeld im Auftr. Der Stadtwerke Bielefeld. Bielefeld, 2000, S. 77-91.
Büschenfeld, Jürgen u.a.: Bahnen in Bielefeld, Nordhorn 1997.
Kotte, Rainer: Die Bielefelder Straßenbahn im Wandel der Zeit. 90 Jahre Nahverkehr, Lübbecke 1989.
Heute vor 50 Jahren ratterte die erste Straßenbahn, in: Freie Presse vom 20.12.1950.
Entstanden im Rahmen des Projektseminars “Stadtgeschichte digital – Bielefeld im 19. und 20. Jahrhundert”, 2023/24, Universität Bielefeld