von Fabio Fromme
Von der Arbeiterschaft zu den Studierenden
Wer in der Nähe des Turms wohnt, weiß es: Der Ostmannturm ist heute ein Studentenwohnheim. Und dass in dem Gebäude die überregional bekannte Gewürzfirma Ostmann 40 Jahre lang ihre aus aller Welt importierten Gewürze verarbeitete, ist trotz des Namens wahrscheinlich nur noch wenigen in Erinnerung geblieben. Weitgehend vergessen ist, dass das Gebäude, welches heute dem Wohnquartier seinen Namen schenkte, früher einmal “Schlachterkirche” genannt wurde und seinen Ursprung in der Arbeiterbewegung hatte. Genauer gesagt, im “Bielefelder Konsumverein”.
Zusammenschluss der Arbeiter
Der Konsumverein wurde als eine Genossenschaft im Jahre 1891 von einer Gruppe Bielefelder Arbeiter gegründet. Die Arbeiter waren in Firmen beschäftigt, deren Namen in Bielefeld noch heute bekannt sind, wie Hengstenberg (später Anker-Werke) und Dürkopp. Bei einem Konsumverein handelte es sich um einen rechtlichen Zusammenschluss von Mitgliedern der Arbeiterschaft, die mit ihren gemeinsamen Mitteln die Herstellung oder den Erwerb von preiswerten Waren, vor allem Lebensmitteln, förderten. Sie entstanden oft aus eigener Not, zur Selbsthilfe oder, wie hier in Bielefeld, um eine schlechte Ernte durch den gemeinsamen Kauf von Kartoffeln auszugleichen. Einen Einblick in die damaligen Arbeitsbedingungen bieten die Wegmarken über die Straßenbahnfahrer und über die Textilproduktion.
Aufstieg zur Eigenproduktion
Auf dieser Basis wuchs der Zusammenschluss, der ein Jahr später offiziell als “Bielefelder Konsum-Verein e.G.m.b.H.” in das Vereinsregister eingetragen wurde, schnell an. Neue Filialen und Bezugsquellen wurden erschlossen. Waren es 1892 noch 833 Mitglieder*innen, so zählte der Verein keine zehn Jahre später bereits mehr als 4600 Mitglieder*innen. Ursprünglich verfolgte der Konsumverein nur das Ziel, für seine Mitglieder kostengünstig Waren einzukaufen. Kurz nach der Jahrhundertwende wurden dann auch eigene Produkte hergestellt. 1902 entstand eine Kaffeerösterei, 1907 begannen die Bauarbeiten an einer Bäckerei und später folgte eine eigene Sparkasse. Der Verein errichtete auch Wohnungen für die Arbeiter. Im Jahr 1914 begannen schließlich die Bauarbeiten an einer eigenen Schlachterei, für die der heutige Ostmannturm als Wasserturm diente. Und weil dieser Turm, damals wie heute ein wenig an einen Kirchturm erinnert, erhielt das Gebäude bald den Spitznamen “Schlachterkirche”.
Auf dem ersten Bild ist die “Schlachterkirche” im Jahre 1932 zu sehen. Die umliegenden Gebäude und Schornsteine zeugen von der dichten industriellen Bebauung, die in der damaligen Zeit im Quartier vorherrschte. Nach dem Erwerb durch das Sozialwerk der Bielefelder Freimaurer e.V. im Jahre 1980 wurde der Turm in ein Studentenwohnheim umgebaut, das noch heute das Quartier dominiert. Auf dem Foto von 1984 sieht man nur noch den Turm, während die meisten der umliegenden Industriegebäude verschwunden sind.
Dieses und weitere Ereignisse der Industrialisierung im Überblick
Quellen der Bilder
Abb. 1 (1914): Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung Nr. 11-1379-02
Abb. 2 (1932): Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung Nr. 11-1379-04
Abb. 3 (1984): Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung Nr. 11-1379-10
Abb. 4 (1960): Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung Nr. 11-941-35
Quellen und weiterführende Literatur
Groß, Elisa. Der Ostmannturm, in: Brahm, Felix (Hg.), Koloniale Spurensuche in Bielefeld und Umgebung. Bielefeld 2014. S. 29-36.
Hey, Bernd, et al. „…daß Westfalen aus seiner Abgeschiedenheit herausgerissen werde“: Zwischen Bahnhof und Kesselbrink, in: Hey, Bernd, et al. Geschichtsabläufe: Historische Spaziergänge durch Bielefeld. Bielefeld 1990. S. 105-106.
Strobel, E. Der Bielefelder Konsumverein e.G.m.b.H., in: Magistrat der Stadt Bielefeld. Das Buch der Stadt. Bielefeld 1926. S. 565-567.
Vogelsang, Reinhard. Geschichte der Stadt Bielefeld: Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Bielefeld 1988. S. 133-135.
Entstanden im Rahmen des Projektseminars “Stadtgeschichte digital – Bielefeld im 19. und 20. Jahrhundert”, 2023/24, Universität Bielefeld